Hühnernachten – eine huhnige Weihnachtsgeschichte

Hühnernachten

 „Booooonnieeee! Wo bist Duuuu?“ krähte Balu quer über die Weide. Der stolze Hahn war langsam am Verzweifeln. Bereits seit fünf Tagen war er auf der Suche nach Bonnie. Er konnte die Henne einfach nicht finden. Die anderen Hennen behaupteten, sie hätten sie nicht gesehen. Wobei er sich nicht so ganz sicher war, ob sie die Wahrheit sagten. Wenn sie sich unbeobachtet fühlten hatte er manchmal den Eindruck, dass sie hinter seinem Rücken tuschelten. Er war ein erfahrener Hahn und wusste, dass die Damen zusammenhielten wie Pech und Schwefel, wenn es darum ging, ein Geheimnis zu bewahren. Er machte ab und an mal einen Versuch eine einzelne Henne auszufragen, aber es war zwecklos. Keine wollte mit der Sprache rausrücken, wo seine Lieblingshenne Bonnie war.

„Booooonnieeee!“ Laut rufend drehte er am späten Nachmittag wieder seine Runde. Aber Bonnie meldete sich nicht. Schlimme Gedanken kreisten in seinem Kopf. Ob sie wohl von einem Fuchs entführt worden war? Oder durch einen Raubvogel durch die Luft weggetragen? Oder ein Marder sie in einer unübersichtlichen Ecke um einen  Kopf kürzer gemacht hatte? Brrrr! Ihn schauderte nur schon beim Gedanken an so einen Hühnerräuber. Er konnte überhaupt nicht begreifen, dass Bonnie einfach so verschwunden war. Sie war doch die Leithenne und es war überhaupt nicht ihre Art, sich von der Gruppe zu entfernen. Wenn ihr bloß nichts schlimmes widerfahren ist!

Während er so vor sich hin stolzierte und immer wieder „Booooonnieeee!“ rief, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung unter dem Rosenbusch wahr. Er drehte den Kopf, schaute hin und horchte. Kein Geräusch war zu hören. Die Neugier hatte ihn aber gepackt und er schritt langsam auf das Gebüsch zu. Als er näherkam, konnte er immer noch nichts erkennen. Vorsichtig streckte er seinen langen Hals durch eine Lücke zwischen den Dornen. Sehr behutsam, damit er sich nicht verletzte. Plötzlich erkannte er am Boden, in einer düsteren Ecke unter dem Rosenbusch ein paar blaue Federn!

„Bonnie? Bist Du hier drinnen?“ krächzte er.

„Pssst! Ruhe! Nicht so laut! Ja, ich bin hier.“ antwortete Bonnie.

Balu meinte: „Was machst Du denn hier ganz alleine? Ich habe mir so Sorgen gemacht, geht es Dir gut? Bist Du verletzt?“

Bonnie antwortete ihm: „Nein, es ist alles gut. Ich sitze gerade.“

„Ja, das sehe ich, dass Du sitzt. Können wir jetzt gehen, du hast ja nun lange genug alleine herumgesessen. Komm jetzt, wir gehen in den Stall auf die Stange, es ist ja bald dunkel.“

„Balu, ich sitze nicht, ich SITZE!“ meinte Bonnie, etwas genervt.

„Können wir jetzt GEHEN?“ Balu wurde langsam ungeduldig.

„Sag mal, bist Du schwer von Begriff? Ich kann hier nicht weg, ich SITZE auf einem EI!“ klärte Bonnie Balu auf.

„Waaas? Du brütest? Du brütest jetzt? Du brütest ernsthaft jetzt? Jetzt brütest du? Bist du verrückt, jetzt zu brüten? Du kannst jetzt gar nicht brüten! Nicht jetzt!“ gackerte Balu hastig.

„Natürlich kann ich jetzt brüten. Wenn ich brüte, dann brüte ich. So einfach ist das.“

„Aber Du weißt doch ganz genau, dass wir in 16 Tagen zur Hühnerzählung müssen! Wie soll das denn gehen, wenn Du hier herumsitzt auf einem Ei. Wieso sitzt Du überhaupt bloß auf einem Ei? Das lohnt sich ja überhaupt nicht. Die ganze Arbeit für EIN EI!“ Balu war immer noch im Gackermodus.

„Sieh Dir das Ei doch erst einmal an.“ Bonnie neigte sich etwas zur Seite, damit Balu das Brutei sehen konnte. Er sah sich das Ei an und traute seinen Augen nicht. Das Ei schimmerte golden.

„Was, …ähm, was ist denn das?“ fragte Balu staunend.

„Ich weiß es nicht. Ich weiß bloß, dass das ein ganz spezielles Ei ist. Ich muss das einfach ausbrüten, egal was geschieht. Und Du wirst mir dabei helfen, Du bist schließlich der Vater. Hast Du gehört? Du Gockel? Du wirst wieder mal Vater!“. Nun war Balu sichtlich gerührt. Er konnte seiner Bonnie sowieso keinen Wunsch abschlagen. Es hätte auch gar keinen Sinn, weil sie ihren Leithennenschädel doch durchsetzen würde.

„Aber wie sollen wir denn zur Hühnerzählung gehen?“ fragte Balu.

„Wir nehmen das Ei einfach mit. Es ist ja noch etwas Zeit bis wir aufbrechen müssen, bis dahin haben wir uns eine Lösung überlegt. Es sitzen ja genügend helle Köpfe im Hühnerstall, euch wird schon etwas einfallen.“ Balu gab sich geschlagen. Bonnie hatte ja recht. So ein spezielles Ei musste man einfach bebrüten. Er fragte sich, weshalb das Ei so komisch golden schimmerte. Aber wozu sich zu viele Gedanken machen, es fiel ihm dazu eh nichts ein.

„Kommst Du hier klar?“ fragte Balu Bonnie.

Sie erwiderte: „Ja, ich bin hier sicher. Hier kommt kein Räuber vorbei. Du kannst beruhigt auf die Stange gehen.“

Balu pickte sie liebevoll in den Kehllappen und trottete Richtung Stall. Die Hennen saßen bereits auf ihren Schlafplätzen. Elfriede, die perlgraue Brahmahenne, döste bereits, während andere noch mit Gefiederpflege beschäftigt waren. Balu hüpfte müde auf die unterste Stange und nahm neben Dolly Platz, die sich sofort an ihn herankuschelte.

„Wo warst Du denn so lange?“ fragte sie Balu.

„Ich habe Bonnie gefunden.“ Die Hennen gackerten und tuschelten gedämpft aufgeregt miteinander, für Balu die Bestätigung, dass außer ihm alle gewusst hatten, dass Bonnie sich zum Brüten zurückgezogen hatte. Erschöpft glitt er schnell ins Land der Träume.

********************************

Balu schlief etwas länger und krähte erst um 6.30 Uhr den neuen Tag herbei. Er hüpfte als erster von der Stange und nahm draußen in der Voliere erst einmal einen Schluck Morgenwasser. Aaah! Das tat gut. Und diese Ruhe; wunderbar. Er hörte, wie sich hinter ihm im Stall die ersten Hennen in die Legenester aufmachten, um ihr Ei zu legen. Das ging natürlich wieder nicht ohne Gegacker und Gezeter. Manchmal wünschte sich Balu, er wäre irgendwo auf einer einsamen Weide, zusammen mit anderen Gockeln. Ohne diese zänkischen Weiber. Aber er liebte sie ja trotzdem. Er würde nie eine von ihnen im Stich lassen, er beschützte alle, ohne Ausnahme. Er bewachte sie den ganzen Tag, zeigte ihnen die besten Futterplätze und achtete auf Ruhe und Ordnung in der Herde. Ganz selten musste er seine Stimme erheben. Balu war ein sehr ruhiger und gerechter Hahn. Die Hennen liebten ihn, er liebte die Hennen.

Als Balu so vor sich hin sinnierte, kam Ofélia an seine Seite. Die kleine Ayam Cemani-Henne kuschelte sich etwas an Balu und nahm ebenfalls einen Schluck Morgenwasser.

„Was machst Du jetzt?“ fragte Ofélia Balu.

„Was meinst Du?“ fragte Balu zurück.

„Na, mit Bonnie. Wir müssen doch in 15 Tagen alle zur Hühnerzählung,“ bemerkte Ofélia.

„Ich weiß es noch nicht, wir müssen uns etwas überlegen. Hast Du das Ei gesehen? Es ist golden. Das muss ein ganz spezielles Ei sein. Wir müssen unbedingt schauen, dass wir es behalten können. Meinst Du, wir könnten es zur Zählung mitnehmen?“ fragte Balu Ofélia, denn er wusste, dass sie ein besonders schlaues Hühnchen war und immer für alles eine Lösung fand.

„Es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als das Ei mitzunehmen. Ich lasse es mir mal durch den Kopf gehen. Schau Du nach Bonnie, ich werde mich mal mit den Damen besprechen.“

Diese Antwort stellte Balu zufrieden und da sich eben die Hühnerklappe öffnete, huschte er behänd hinaus auf die Weide Richtung Bonnie. Die saß immer noch wie ein Pfannkuchen an derselben Stelle wie tags zuvor.

„Guten Morgen, meine Liebe!“ trällerte Balu.

„Morrrnnn.“ Bonnie war noch etwas versteift im Brutmodus. Langsam entspannte sie sich und es kehrte wieder etwas Leben in ihre Glieder. Begleitet von einem lauten Schrei sauste sie wie vom Blitz getroffen vom Nest und fegte über die Weide Richtung Futter. Dort aß sie hastig etwas, trank Wasser und ließ sich dann genüsslich im Staubbad nieder. Balu blieb beim Nest und bewachte das besondere Ei. Nach einer halben Stunde kehrte Bonnie auf ihr Nest zurück, wechselte ein paar nette Worte mit Balu und erstarrte dann von Neuem auf ihrer Brutstätte. Balu kehrte zurück in den Stall, wo langsam richtig Leben einkehrte und suchte Ofélia. Die hatte eben ihr Ei gelegt und spazierte nun mit Balu und ein paar anderen Hennen über die Wiese.

„Balu, ich habe eine Idee.“ sprach Ofélia zu Balu.

„Lass mal hören.“ Balu war gespannt, was die schwarze Henne vorschlagen würde.

„Also, wir haben ja noch ein paar Tage Zeit. Bis zum Aufbruch, bauen wir ein tragbares Nest, dass wir Dir am Rücken und vor der Brust befestigen. Auf dem mobilen Nest kann Bonnie auf ihrem Ei sitzen. Du bist kräftig genug, um die Fuhre zu ziehen. Für die Federung des Nests lassen wir uns etwas einfallen. Das wird schon klappen.“

Balu meinte, dass das zwar etwas abenteuerlich klänge, aber er damit einverstanden war. Ofélia machte sich sofort an die Arbeit. Sie trommelte ein paar Hennen zusammen, weihte sie in ihren Plan ein und schon sprengten die Hühner in alle Richtungen davon, um Baumaterial zu sammeln. Die Hennen spannten alle zusammen und bald war ein ansehnlicher Haufen an Ästen, trockenen Gräsern, Rindenstücken, Heu und Blättern beisammen. Sie fingen mit dem Tragegestell an. Ofélia gab Anweisungen, ihre Baukolonne führte sie aus.

Das Bauen war mühselig und dauerte sehr lange. Es war einfach sehr schwierig mit den harten Hühnerschnäbeln Gräser zu flechten. So würden sie nie fertig werden. Da flatterte ein Spatzenmännchen herbei.

„He! Ihr da! Wir haben gehört, was ihr vorhabt und beobachten euch schon eine Weile. Sollen wir euch helfen? Wir dürfen ja auch immer bei eurem Futter mitfressen, daher wäre es uns eine Ehre euch etwas beim Gräser flechten zu helfen.“

Die Hühner nahmen die Hilfe gerne an. Der Spatz flog kurz hoch in die Krone der Weide, gab seiner Familie ein paar Instruktionen und schon flog ein ganzer Schwarm Spatzen zur Baustelle. Flink und unter lautem Gepiepse flochten die Spatzen Schleppseile, Tragseile, banden Stöckchen zusammen und flochten eine Liegefläche. Die Hühner staunten nicht schlecht und waren ganz begeistert von den Bautätigkeiten der Spatzen. Als es dämmerte flogen die Spatzen in ihre Schlafbäume und kamen am nächsten Tag wieder und sie kamen so oft, bis das ganze Tragegestell fertig zusammengeflochten und an Balus breite Schultern angepasst war. Noch drei Tage bis zur Hühnerzählung.

Bonnie war es nun auch langsam leid, fortdauernd zu sitzen und sie sehnte den Tag herbei, wo es unter ihr Piepsen würde und sie endlich zusammen mit ihrem Küken die Welt erkunden könnte. Sie musste sich aber noch etwas gedulden. Die letzten paar Tage müsste sie ganz stillsitzen, denn in der Schlupfphase muss es das Küken im Ei ganz wohlig warm und möglichst ruhig haben.

********************************

Am Morgen des 18. Tages schritt Balu mit dem mobilen Nest über die Weide, um Bonnie abzuholen. Er sah aus wie ein Brauereiross, das ein Fuhrwerk zog. Das Geschirr war perfekt an seinen wuchtigen Körper angepasst, vorne prangte ein bequemer Brustgurt und unter den Flügeln verliefen die Ziehleinen. Hinten, auf der geflochtenen Liegefläche hatten die Hennen das ultimativ kuschlige Reisenest gebaut, worauf sich nun Bonnie mit Ei setzen sollte. Bonnie konnte ihren Augen nicht trauen, als sie die Fuhre sichtete.

„Wow, das habt ihr aber toll hinbekommen!“ gackerte sie freudig. Sie streckte sich und nahm das goldene Ei ganz vorsichtig unter ihren Flügel. Langsam verließ sie ihr Brutnest unter dem Rosenbusch, legte das goldene Ei ins Reisenest und setzte sich drauf. Balu trottete langsam los. Bonnie spürte keinerlei Bewegungen oder Vibrationen. Ofélia hatte alles so perfekt durchdacht und die Hennen und Spatzen hatten das alles ebenfalls aus einem Guss gebaut. Nichts konnte Bonnie erschüttern. Sie fiel sofort wieder in ihre Brutstarre und bemerkte gar nicht, dass sie sich auf einer Reise befand.

Die Hennen packten im Stall hastig ihre Sachen zusammen, damit sie alles Nötige für die nächsten Tage bei sich hätten. Der Weg nach Brothausen – wo die Hühnerzählung stattfinden würde – war nicht sehr weit, aber sie wussten, was das jeweils für ein Gedränge war kurz vor der Zählung. Es war also ratsam, etwas eher aufzubrechen, damit man rechtzeitig einen Stall für die Nacht finden konnte. Die Hühnerschar verabschiedete sich von den drei ältesten Hennen, Perla, Jirafa – Zwei Seidenhuhnhennen und Tschosi eine Appenzeller Spitzhaubenhenne. Sie wollten die Reise nicht mitmachen und gaben ihren Freundinnen Vollmachten für die Zählung mit. So konnten sie sich die für sie mühsame Reise sparen.

Der Tross brach auf, vorne weg Balu mit Bonnie und noch eingekapseltem Küken im Schlepptau, dahinter streng nach Hackordnung die restlichen Hennen, 21 an der Zahl. Die Reise verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Am Abend des zwanzigsten Tages kamen sie in Brothausen an. Das kleine Dorf war komplett überfüllt. Überall gackerte und krähte es, an jeder Ecke wurde gescharrt, Hähne stritten sich, Hennen zankten, Küken spielten im Sand und unter den Bäumen. Balu schritt zielstrebig auf den Stall zu, in dem sie bereits letztes Jahr übernachtet hatten. Er klopfte mit seinem Schnabel an die Hühnerklappe. Die öffnete sich kurz, ein alter Hahn lugte hinaus, schrie kurz und knapp „alles belegt“ und knallte die Klappe wieder zu. Balu konnte gar nicht reagieren, so schnell war das passiert. Er drehte sich um und schaute in die erschöpften Augen seiner Hennen. Die einzige, die entspannt war, war Bonnie. Die hatte es immer noch bequem auf ihrem Reisenest. Balu zog weiter mit seiner Schar und versuchte es bei weiteren Ställen. Alle waren belegt, komplett gefüllt mit Hühnern. Die Truppe wurde immer erschöpfter. Nun waren sie bereits tagelang unterwegs und sie sehnten sich nach einer bequemen Stange. Balu klopfte an die letzte Klappe im Dorf, an die er noch nicht geklopft hatte. Es war ihre letzte Chance, doch noch einen Schlafplatz zu ergattern. Balu klopfte.

„Ja? Was wollt ihr? Es ist alles belegt, falls ihr hier schlafen möchtet!“ Eine alte Altsteirer Henne mit ergrauter Haube namens Antonia schaute ihnen aus der Hühnerklappe entgegen. Sie musterte Balu, Bonnie und den Rest der Gruppe. „Was seid ihr denn für eine Zirkustruppe?“ fragte die Altsteirerin.

„Wir sind seit Tagen unterwegs, weil wir zur Hühnerzählung müssen. Bitte hilf uns, Bonnie brütet und das Küken wird bald schlüpfen, wir brauchen dringend einen Schlafplatz! Du bist unsere letzte Hoffnung, Bitte!“ flehte Balu die alte Henne an.

„Wer brütet denn zur Hühnerzählungszeit? Das ist doch unverantwortlich!“ gackerte die Henne.

„Ja, das wissen wir. Aber das Ei ist golden, Bonnie muss das Ei einfach ausbrüten. Es scheint ein sehr spezielles Ei zu sein.“

„Ein goldenes Ei? Meine Güte! Das ist wahrlich ein sehr besonderes Ei! Wisst ihr was? Im Hühnerstall ist alles bis unter die Stangen komplett belegt, aber wenn ihr wollt, dann könnt ihr im Kuhstall übernachten. Die Kühe haben sicher nichts dagegen. Ihr könnt es Euch auf den Stangen der Futterraufe bequem machen. Und für die Glucke findet sich auf jeden Fall ein bequemes Plätzchen. Die Hühnerschar atmete sichtlich erleichtert auf, Balu bedankte sich überschwänglich bei der alten Dame und die Reisegruppe bezog glücklich ihr Nachtquartier im warmen Kuhstall. Die Kühe lagen bereits und widerkäuten. Sie freuten sich auf etwas Gesellschaft und ließen das Federvieh gewähren.

Die Hennen hüpften sofort auf die Stangen der Raufe und fingen an, den Staub aus ihrem Gefieder zu klopfen und ihre Federn zu pflegen. Balu schob Bonnies Reisenest von der Trage, zog es unter die Raufe, wo es schön dunkel und ruhig war. Balu setzte sich neben das Nest, damit Bonnie nicht so alleine war. Er war so erschöpft, er schlief sehr schnell ein.

Bonnie war überglücklich, dass alles so gut geklappt hatte und ihr goldenes Ei immer noch unversehrt war. Was daraus wohl schlüpfen wird? Ein goldenes Ei hatte sie noch nie gelegt. Während sie so vor sich hin sinnierte, bemerkte sie, dass in ihrem Ei etwas vor sich ging. Ganz schwach hörte sie ein Piepen und sie hörte, wie das Küken im Ei mit dem Eizahn gegen die Schale klopfte. Es geht los! Der Schlupf beginnt!

Am Morgen des 21. Tages erwachten die Reisehühner langsam aus ihrem tiefen Schlaf. Sie dösten noch etwas auf den Stangen, denn die Reiserei hatte sie doch sehr mitgenommen. Da hörten sie ein Knacken. Und ein Piepen. Noch mehr Knacken und einen Piepschrei. Dann ununterbrochenes Piepen. Alle drehten sich nach Bonnie um. Diese saß mit ihrem breitesten Grinsen auf dem Nest und war die Glückseligkeit in Person. „Es ist geschlüpft!“ verkündete sie stolz.

Die Hühner hüpften von ihren Stangen und rannten zu ihr hinüber und alle gackerten aufgeregt. Die Kühe muhten zur Gratulation, Balu war komplett aus dem Häuschen und krähte lauthals vor Freude.

„Zeig, zeig, wie sieht das Küken aus!“ Die Hühner wollten nun natürlich endlich wissen, was aus dem goldenen Ei geschlüpft war.

„Geduld, meine Damen, Geduld! Es ruht sich nun erst mal aus, nach so einem anstrengenden Schlupf. Ich werde euch rufen, wenn es das erste Mal hervorkommen möchte. Bonnie breitete sich noch etwas mehr über das Küken aus, indem sie sich schützend aufplusterte. Die anderen wussten, dass sie keine Chance haben würden, jetzt etwas zu erblicken. Sie mussten warten.

Die Warterei wollte kein Ende nehmen. So langsam wurden sie ungeduldig. Aber es blieb ihnen nichts anderes übrig, als einfach abzuwarten. Balu schien die Ruhe selbst zu sein, doch in seinem Inneren brodelte es. Er wollte auch endlich wissen, was das für ein spezielles Küken war.

Bonnie räusperte sich. „Meine Lieben, darf ich euch vorstellen: Samson, unser Küken! Alle kamen schnell herbei, um einen Blick auf das Küken werfen zu können. Das kleine Küken kämpfte sich durch die flauschigen Federn Richtung Ausgang. Es streckte vorsichtig sein Köpfchen aus Bonnies Brustfedern und schaute in staunende Hühneraugen.

„Ooooh! Aaaaah! Waaas! Wirklich? Aaaaah!“ Die Hühner kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. So ein Küken hatten sie noch nie zuvor gesehen. Es schimmerte in allen Farben, die der Regenbogen hergab.

„Es ist ein Regenbogenküken! Ein Regenbogenküken!“ die Hühner gackerten nun wild durcheinander. Ein Regenbogenküken! So ein Küken schlüpfte nur ganz selten. Es sind ganz spezielle Küken, die alle Farbgene in sich tragen und alle möglichen Gefiederfarben vererben können. So ein wertvolles Küken! Sie waren alle hin und weg, Balu platzte fast vor Stolz und die Kühe muhten anerkennend. Als sich die Euphorie gelegt hatte und alle ihrem täglichen Scharrgeschäft nachgingen, fiel es Ofélia plötzlich wie Schuppen von den Augen.

„Wisst ihr was? Wir haben etwas sehr Wesentliches bei unserem Vorhaben übersehen,“ meinte sie traurig.

„Wie? Was denn?“ gackerten die anderen aufgeregt.

„Wir haben das Kükenfutter vergessen mitzunehmen. Womit sollen wir das Küken füttern? Wir haben ja für uns ja schon fast zu wenig Reiseproviant.“ Es wurde ruhig im Stall. Die Kühe hörte für einen Augenblick auf, zu kauen und schnauften laut durch ihre Nüstern aus. Die Stimmung war jetzt sehr bedrückt im Stall. Bonnie war den Tränen nahe. Die Luft war zum Schneiden angespannt.

Da klopfte es an die Stalltür. Ausgerechnet jetzt mussten sie auch noch gestört werden. Es klopfte noch einmal, etwas lauter.

„Balu? Bist du da drin?“ fragte eine leise Stimme.

„Perla? Bist du das?“ Balu erkannte die Stimme des Seidenhuhns sofort und rannte zur Tür, um sie zu öffnen. „Perla? Was machst Du denn hier?“

Aber nicht nur Perla stand vor der Stalltür, sondern auch Jirafa und Tschosi. Sie grüßten Balu kurz und betraten dann im Gänsemarsch den wohligen Stall.

„Habt ihr nicht etwas vergessen?“ fragte Perla die Hühnerschar und blickte in erstaunte Gesichter. „Zum Beispiel Kükenfutter?“

„Oder Brennnesseln?“ fragte Jirafa die Truppe.

„Oder Oregano?“ fügte Tschosi an.

Die Hühner schrien vor Freude auf und alle gackerten durcheinander. Perla, Jirafa und Tschosi hoben ihre Flügel und kleine Futterpakete fielen auf den Stallboden. Alles Geschenke für das Regenbogenküken. Kükenfutter, Brennnesseln und Oregano! Was für Kostbarkeiten! Die alten Hennen schauten sich das Regenbogenküken an und waren hin und weg vor Rührung. Balu war beeindruckt, dass die erfahrenen Hennen an alles gedacht hatten und war froh, dass sie den für sie beschwerlichen Weg nach Brothausen auf sich genommen hatten. Was waren sie für eine glückliche Hühnerschar an diesem Tag. Balu war einfach nur glücklich. Er setzte sich etwas abseits seiner Gackerliesen in eine ruhige Ecke des Stalls. Und als er so saß und sich entspannte, hörte er von draußen her einen leisen fröhlichen Spatzengesang: Hosianna, uns ist ein Regenbogenküken geschlüpft! Hosianna!

Frohe Weihnachten!

Hühnernachten (© 2020 Anita Zimmerling Enkelmann)

(© 2020: Anita Zimmerling Enkelmann. Bei diesem Text handelt es sich um eine erste Fassung. Sämtliche Protagonisten der Geschichte sind real existierende Hühner)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.